Wir befanden uns auf dem Rückweg aus Portugal. Fünf junge Leute mit einem geliehenen Bulli in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub. Endlich raus aus der Schule, frei von den wohlmeinenden elterlichen Ratschlägen, der schulischen Langeweile und dem täglichen Einerlei. Sonne, Strand, Bier und Party. Wein, Weib, Kerle und Gesang. Entsprechend erschöpft waren wir, als wir dann nach einigen wunderbaren Wochen die Räder unseres Volkswagens heimwärts rollen lassen mussten.
Auf der langen Strecke durch Spanien hatte die Nacht den Tag abgelöst und die Dunkelheit mitgebracht. So bahnten wir uns im Scheinwerferlicht den Weg hoch in die Pyrenäen. Da wir gerne abseits der Autobahnen fuhren, nahmen wir den Weg durch die Serpentinen. Müde dösten bereits einige von uns vor sich hin, so gut man das im Auto eben kann.
Hügel um Hügel und Berg um Berg ging es nur schleichend voran. In der Abgeschiedenheit ersetzte oft Finsternis die Dunkelheit, nur das Licht der Scheinwerfer wies uns den Weg. Aber die Finsternis schien auch noch etwas mit sich zu bringen. Als ob sich ein Mantel aus Schwermut über uns legte. Nichts greifbares, aber dennoch von spürbarer Präsenz. Vielleicht lag es auch nur an der Müdigkeit, oder dem düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Ich strich mir eine Strähne meiner langen Locken aus dem Gesicht und kurbelte das Seitenfenster etwas herunter, die Luft war warm und stickig im Auto. Ich wischte mir zum x-ten Mal den Schweiß von der Stirn. Rechts erschien ein flacher Abhang mit einer Wiese. Und etwas Platz, um rechts ran zu fahren. Eine Gelegenheit für eine kurze Fahrpause und einen Fahrerwechsel.
Wir rauchten schweigend eine Zigarette, als uns plötzlich ein Knall ganz in der Nähe zusammen zucken ließ. Es folgte etwas wie ein Schrei, vielleicht der einer Frau oder eines Kindes. Grell. Fast ein Kreischen. Aber sicher, was wir da gehört haben, bin ich mir heute noch nicht. Obwohl uns der Schreck in die Glieder fuhr und für einen Moment erstarren ließ, zögerten wir nicht lange. Falls da jemand Hilfe brauchte, wollten wir sie nicht verweigern. Jugendlicher Ungestüm. Wir rannten einen Pfad, den Hang hinab in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Mitten in einen schweren, nassen Nebel hinein. Wir konnten uns gerade noch schemenhaft gegenseitig sehen. Eine alte, abgewrackte Steinhütte tauchte vor mir auf. Ich blieb stehen. Rief den anderen zu, das wir beieinander bleiben sollten. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich schaute mich nach den anderen um, aber sah sie nicht mehr. Ich rief nochmal. Keine Antwort. Zögernd näherte ich mich mit vorsichtigen Schritten der Hütte. Eine eisige Kälte durchdrang meinen ganzen Leib, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Unmittelbar vor dem türlosen Eingang blieb ich stehen. Stocksteif. Unfähig weiter zu gehen. Tränen rannen meine Wangen hinab. Stille im Nebel. Grauweißer, diffuser, nasskalter Nebel. Und doch mehr als nur Nebel, als wäre er mit Eigenleben gefüllt. Mit Willen. Dem Willen mich erstarren zu lassen. Mir Angst einzujagen. Blendende, alles gefrieren lassende Angst, die einen Menschen töten kann. Von gleißender Angst geblendet ergriff mich nackte Panik. Ich rannte. Rannte zurück zum Auto. Rief nach meinen Freunden. Hörte leise ihre Stimmen, wie auch sie mich riefen. Schemen rechts neben mir, Schemen links neben mir. Ihre Rufe wurden lauter. Sie rannten ebenfalls. Keuchend erreichten wir unseren Wagen. Schwer atmend sahen wir uns an. Wir waren nur zu viert. Einer fehlte. Betretenes Warten. Keiner wollte wieder den Weg nach unten herab gehen, dass war offensichtlich, obwohl keiner etwas sagte.
Einige Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten. Seufzen. Wir sahen uns an. Was blieb uns anderes über? Schweren Herzens traten wir nochmal den Weg zur Steinhütte an, um unseren Freund zu suchen. Wir blieben dicht beieinander und riefen ihn unentwegt. Kurz bevor wir die erste Nebelschwade erreichten, ein Geräusch, mehrere Geräusche, vereint lauter werdend. Zu schnellen, sehr schnellen Schritten. Er kam er uns entgegen gerannt. Leichenblass. „Rennt!“ schrie er. „Rennt!“ Und das taten wir. Bis zum Auto. In das Auto. Mehr springend, als einsteigend. Ich startete den Motor. „Fahr!“ schrie er. „Verdammt, fahr los!“. Und ich fuhr. Ich sah ihn an. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Panik in den Augen. „Was ist denn passiert?“, fragte ich. Keine Antwort. „Müssen wir zur Polizei?“ Im stand Entsetzen ins Gesicht geschrieben, aber er schüttelte den Kopf. „Fahr weiter!“. Schweißtropfen auf der Stirn, nasskalte Angst. Und dabei blieb es. Keine Antwort. Auch nicht in den Tagen danach. Jedes mal, wenn ich ihn fragte. Schweigen. Kein Kommentar. Die anderen löcherten ihn mit Fragen. Wochenlang. Ich informierte sogar die französische Polizei, wobei ich Schwierigkeiten hatte, denen zu erklären, was wir erlebt hatten. Sie nahmen es wohl auch nicht ernst. Was war da unten in dem Pyrenäental passiert? Abwenden, unser Freund schwieg, immer. Jahre vergingen. Er veränderte sich, alterte schneller als wir anderen, seine Gesichtszüge verhärmten zusehends und wurde immer verschlossener. Irgendwann fragte ich nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr ihn. Wir anderen schienen alle das selbe unerklärliche erlebt zu haben und redeten auch nicht gerne und immer seltener darüber. Eigentlich war ja nichts passiert, nichts greifbares.
Und so blieb mir selbst nur die Stille, Freudlosigkeit und die immer wieder kehrende Frage:“Welcher Schrecken hat die Macht, uns für immer schweigen zu lassen?“.
© Jo Wolf
Sehr mysteriös und du hast es so wundervoll beschrieben, jedes deiner Worte lässt einen mitfiebern. Mich hätte es auch interessiert, was deinem Freund dort begegnet war, es muss ihn tief getroffen haben, wenn er nie mit euch darüber geredet hat. Das Unerklärliche, was uns immer wieder zwischen Himmel und Erde begegnet, vielleicht sollten wir es tatsächlich zulassen, obwohl ich teilweise noch weit davon entfernt bin.
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank, Jane. Ich kann sehr schlecht mit Lob umgehen und winde mich gerade dagegen und drumherum, ihn einfach anzunehmen. Es bedeutet mir jedoch sehr viel, wenn Dich meine Geschichte mitgehen und nachdenken lässt. 🙂
Was das Unerklärliche angeht. Ich stehe da immer im Zwiespalt zwischen Ratio und dem eigenen Erleben verschiedener Ereignisse in meinem Leben. Du stehst ganz bestimmt nicht allein damit, keine Erklärungen zu haben, oder Gedanken nicht zulassen zu können.
Liebe Grüße,
Jo
LikeGefällt 1 Person
Jedes meiner Worte ist ehrlich gemeint, manchmal bin ich leider zu ehrlich, das gefällt dann auch nicht Jeden, aber du hast die wundervolle Gabe deinen Worten Leben einzuhauchen. Du schreibst und wir/ich fühle es in mir drin und das gelingt nicht Jeden. Worte, die man fühlen darf, sind unglaublich schön!Freue mich auf weitere tolle Beiträge von dir.
Liebe Grüße Jane
LikeGefällt 1 Person