Lyrischer Tobsuchtsanfall

Flucht aus den Fängen von Schwermut, Trauer und Hass

In fester Umklammerung der Nichtsranken gehalten, erstickte ich zuckend inmitten der graphitgrauen Aura des Hasses. Und erstickte weiter. Immer weiter. Kein erlösendes Ende, kein sich erbarmendes, letztes Schlagen meines Herzens. Meiner Stimme beraubt.

„Fasse Mut“, flüsterte die Hoffnung. „Ich vertraue Dir“, raunte die Liebe.

„Lüg dich nicht an!“, die Hoffnung rüttelte an mir. „Du weisst, was du bist. Sag es!“

„Was ich bin? Was bin ich denn? Ich bin nichts! Ich bin niemand. Ich habe nichts erreicht und nichts errungen!“, schrie ich lautlos in die Welt.

„Nichts!“, echote der Hass grinsend aus der Welt zurück. „Niemand!“, äffte mich die Schwermut nach.

Ich musste zu meiner Stimme zurückfinden, mich selbst als Ganzes annehmen, um dem eisernen Griff von Schwermut, Hass und Trauer und damit den düsteren Mooren zu entkommen. Aus bewegungunfähiger Sprachlosigkeit heraus selbst Sprache werden.

Ich erhob mit kümmerlichem Tonfall meine Gedanken und richtete sie mühsam an den Hass:

„Du hast mich nach meinem Namen gefragt. Ich habe Dir das wohl nicht vollständig beantwortet. Du willst wissen, wer ich bin? Was ich bin? Ich sage Dir was ich bin! Du wirst es dennoch nie verstehen, denn ich bin Vielfalt wo Du Einfalt bist. Bin Segen, wo Du nur Zerstörung bringst. Du bist Niedergang und Schweigen, ich dagegen, ich bin…alles.“

 

„Ich bin nicht Nichts, ich bin nicht Niemand. Ich bin Jo, das Kind der Wölfe, bin das Heulen in dem tiefen Wald. Ich bin Stimme, ich bin Sprache, bin den Taten folgende Erinnerung. Ich bin das was über bleibt, wenn dein Schemen längst vergangen und durch mein Schweigen ungewesen ist. Ich bin Mimik, ich bin Gestik, bin die Welt, die sich in Büchern findet und aller Wesenheiten Spiegelbild.“

 

„Ich bin Komik, ich bin Tragik, bin das Drama, das den Atem raubt. Mein bloßes Flüstern sät Gerüchte und mein Wispern schürt des Menschen Furcht. Ich bin das Säuseln der Verliebten und auch das Versprechen, das die Liebe ewig bindet, bringe Hoffnung und Erblühen, mit nur einem Federschwung. Ich bin Sarkasmus, der dem Übel spottet und das Seufzen, wenn der Vorhang fällt.“

„Du willst wirklich wissen, was ich bin? Soviel Wahrheit verträgst Du doch gar nicht!“

„Ich bin wahrhaft, ich bin Lüge, ich bin der Zweifel, der selbst an Deinem Hassen nagt. Ich bin Musik in euer aller Ohren, die zum Klingen keines Tons bedarf. Ich beschwöre Nebel, die den Tag verhüllen, tränke Nächte in Kontrast von Grauen. Ich färbe Trist in Regenbogenfarben und banne Schrecken, die ich selber spinne, schenke Schmunzeln, wenn die Menschen Trauer plagt.“

 

Ich bin Sprache

und des Dichters Rage,

atme Sagen, blute Mythen,

meine Tränen reinste Wörterflut.

Ich bin reden, wenn Du endest,

schreibe dem Vergessen trotzend,

bin Geschichte die dich anklagt

und das Totenlied auf deinen Untergang.

Bin das Prangern und der Richtspruch,

der unter Jubel den Tyrannen fällt.

 

Ich bin die Liebe und die Hoffnung,

die sich jedesmal zu Wort erhebt,

wenn der Hass oder die Trauer,

einer Stimme Knebel webt.

 

Niemals kann mich Hass verzehren,

weil ich ihn selbst erschaffen hab.

 

Ich bin…

Der Klang meiner Gedanken schwoll zu einem Flüstern an, das sich dröhnend und mit aller tränenerstickter Intensität, die ich jemals in meine Worte gelegt hatte, über die Moore erhob:

Ich bin nicht mundtot!

Ich bin kein Nichts

ich bin nicht Niemand.

Ich bin Jo, das Kind der Wölfe,

bin das Heulen in dem tiefen Wald.

Ich bin Stimme!

ich.

bIN.

SPRACHE. !!!

Das noch über die, sich in Blütenknospenfarben verfärbenden, Senkgassenmoore schallende Echo meiner wieder zum Leben erweckten Stimme war noch lange nicht verflogen, als ich mit Knien und Handgelenken hart auf das Kopfsteinpflaster aufschlug und japsend Luft in meine Lungen saugte. Ich hielt mich keuchend für einen Moment auf allen Vieren kniend, bevor ich bäuchlings mit dem Gesicht voran auf den Boden sackte und einfach schwer atmend auf der Stelle liegen blieb.

© Jo Wolf

 

[Dieser Text ist ein Auszug aus meinen Senkgassenmoorgeschichten. Ich wollte versuchen, ob der Gedichtsteil auch für sich stehend funktioniert. Aber dann bin ich doch bei der in Teile der Rahmenhandlung eingebetteten Fassung geblieben. Die Verse scheinen doch erklärungsbedürftig und in Zusammenhang gesetzt.]

4 Antworten auf „Lyrischer Tobsuchtsanfall

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  1. Thank you very much with all my heart. These beautiful your words made me cry. I don’t recognize myself anymore and I suffer a lot but I don’t care nothing of life. Sorry for my harsh words, are against me:-(

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      1. No unfortunately it is a sad moment where in life are completely alone. You are very kind to avermerlo asked, thank you very much. 🙂

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