Wahrheit oder Wahrheiten

Was ist die Wahrheit? Oder gibt es eine Vielzahl von Wahrheiten? Das ist ein aktuelles Thema, scheint es. In letzter Zeit hört man verstärkt Menschen laut heraus posaunen, dass sie nicht nur die Wahrheit, sondern sogar die WAHRHEIT kennen. Auf der anderen Seite feindlich gegenüber stehend sehen sie nicht bloß die Lüge, sondern die LÜGE, besonders in Politik und Medienlandschaft. Wird Wahrheit wahrer, wenn man sie hinaus schreit in die Welt? Werden Behauptungen und Meinungen dadurch zur Wahrheit? Entsteht Wahrheit dadurch, dass sie aggressiv genug vertreten wird und sich in den Köpfen der Menschen festsetzt, bis sie als Realität wahrgenommen wird?

Persönliche Wahrnehmung und Wahrheit scheinen oft nahe bei einander zu liegen. Sie wird von Sichtweisen aus dem eigenen Umfeld heraus geformt. Durch Informationspuzzleteile, aus denen wir ein Gesamtbild zusammensetzen. Dieses nennen wir dann Realität und Wahrheit. Das Informationen selten vollständig und so gut wie immer durch persönliche Wahrnehmung beeinflusst ist, wird dabei gerne vergessen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Rechtsprechung. Anwälte, Zeugen, Polizei und sonstige Beteiligte tragen Informationen zusammen aus denen sich ein Gesamtbild ergibt. Ein Richter (oder mehrere) bewertet dieses Gesamtbild und seine Einzelbestandteile. Daraus formt er, so gut wie möglich, ein Urteil und spricht Recht. Dieses Recht entspricht seiner Wahrnehmung des Gesamtbildes aus Informationen, von den möglichst viele faktisch belegt sein sollten. Das klappt mal besser, mal schlechter. Oft ist die Beweislage nicht so eindeutig. Daher ist das gesprochene Recht nicht zwangsläufig gerecht. Dennoch wird es Realität und zur Wahrheit erklärt.

Ein Kläger, der möglicherweise Recht zugesprochen bekommen hat, sie seine Sicht der Dinge bestätigt, seine Wahrnehmung und Realität entspricht nun der Wahrheit. Der vielleicht zu Unrecht verurteile Angeklagte hatte Informationen, die als als weniger wahr gewichtet wurden. Er konnte sie möglicherweise nicht mit Beweisen belegen. Dennoch weiß er um ihren Wahrheitsgehalt. Seine Wahrheit und die Realität der anderen Menschen unterscheiden sich nun. Damit muss er leben und umgehen. Es kann auch sein, dass er selbst nicht mit Sicherheit sagen kann, wie der Verlauf der Dinge war, weil die der Sachverhalt viel zu komplex ist. Dann wird die Einschätzung von Wahrheit besonders vage.

Je mehr die einzelnen Informationen sich von eindeutig faktischem Charakter entfernen, umso diffuser wird das, was wir Wahrheit nennen können. Die Informationen beruhen nahezu immer auf persönlicher Wahrnehmung und Interpretation. Je mehr Menschen eine Situation oder ein Verhalten gleich interpretieren, umso mehr werden diese zur Wahrheit. Zumindest für diese Menschen. Je mehr Aspekte dabei ausgeklammert werden, umso unschärfer wird die Wahrheit an sich; manch einer würde aber auch behaupten, je einfacher desto klarer und wahrer wird ein Sachverhalt. Wieder ein Punkt, an dem unterschiedliche Wahrheiten entstehen. Oft wird keine Seite ihre endgültig und umfassend belegen können. Aber die stärkere Seite kann ihre Sicht einfach zur absoluten Realität erklären. Diese wird dann für wahr genommen.

Was bliebt schlussendlich? Um endgültige Wahrheit festlegen zu kennen, müssten alle Informationen eindeutig faktisch vorliegen. Jeder relevante Gedanke (Wer beurteilt die Relevanz?), jede hinter Handlungen stehende Absicht und Motivation müsste eindeutig belegbar sein. Frei von jeder Interpretation. Das hieße, mit Computern in die Gehirne der Menschen einzudringen, aber selbst was dort zu finden ist, wurde schon durch Filter aufgenommen. Das ganze Leben müsste vollständig aufgezeichnt werden, aus jedem möglichen Blickwinkel. Selbst dann blieben noch Wahrnehmungsdifferenzen, denn der Urteilende selbst ist niemals frei von eigener gefilterter Wahrnehmung.

Es gibt also weder Wahrheit noch Wahrheiten. Es gibt Wahrnehmung. Es gibt Informationen, Es gibt sich überschneidende Realitäten und Fragmente aus Sichtweisen, manche davon sicherlich weniger bezweifelbar als andere. Wenn jemand, womöglich noch in Großbuchstaben, behauptet, die Wahrheit zu kennen, dann glaube ihm nicht. Wenn er sich dann auch noch als Realist bezeichnet und seine Realität für allgemeingültig erklären will, dann sollten Deine Alarmglocken angehen. Dieser Mensch hat eine wesentliche Grundlage der Existenz nicht verstanden. Oder zumindest relativ schlecht. Denn alles ist relativ.

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22 Kommentare zu „Wahrheit oder Wahrheiten

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    1. Danke Felia, mir war da so nach, dieses Thema beschäftigt mich seit einiger Zeit und ich sehe mit Besorgnis, wie billig solche Begrifflichkeiten für Stimmungsmache verheizt werden. Liebe Grüße, Jo 🙂

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  1. 0,003% – das ist der Anteil an Informationen die wir von 100% tatsächlich wahrnehmen. 0,003%! Und welche 0,003% das sind, bestimmt, wie Du schon geschrieben hast, die persönliche Erfahrung und die Ausrichtung der Gedanken bzw. der Fokus. Wenn man das weiß, weiß man, dass sich kein Streit dieser Welt wirklich lohnt. Wir sehen alle dasselbe, nur eben nur 0,003% davon…

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      1. Vor allem frage ich mich gerade, wie man „eine Situation“ zeitlich und räumlich eingrenzt… hm… wir werden mehr Menschen brauchen, um auf Nummer sicher zu gehen. Ja, sehr realistisch. Aber nur so kommt die Wahrheit ans Licht… XD

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